Geschenkgeschichten

Hier ein kleiner Auszug aus meiner Schreibwerkstatt:


Das arme Mädchen, das ihren Vater verlor

es war einmal ein armes mädchen, dessen eltern in einer schäbigen hütte mitten im wald lebten. die große armut bewirkte, dass vater und mutter sich nicht lieb haben konnten - vielmehr stritten sie sich ständig und die liebe not wollte nicht von ihnen weichen. das mädchen war darüber so traurig und musste so viel weinen, dass ein leichter schleier über allem lag, was sie sah. ihre augen wurden schwach und nichts konnte das kind klar und scharf erkennen. dort, wo die grenzen begannen, lösten sie sich auch schon wieder auf. der wald mit seiner großen verlässlichkeit war alles, was das kind besaß. das mädchen liebte ihren wald sehr, und wann immer sich eine jahreszeit anmeldete, war es ein fest für das kind. margarita, so hieß das kind, konnte die zeit riechen, mit ihren ohren hörte sie, wenn der sommer kam oder wenn sich der winter breit machte mit seiner stille, die so mächtig klang wie heilige orgelmusik. mit ihren händen fühlte sie die sanfte, zarte zeit des frühlings, und wenn im herbst die blätter tanzten, dann tanzte margarita mit ihnen und wirbelte ihren jungen körper im kreis mit. in ihrem wald konnte sie sich geborgen fühlen, und das wissen um die vielen kleinen und großen tiere, die in diesem wald wohnten, gaben ihr ein tiefes wissen um die rechte zugehörigkeit.
eines tages war es so weit. margarita war ein großes mädchen geworden und nun musste sie in die stadt gehen. "jetzt musst du wichtig werden - "wichtig-werden" das heißt geld verdienen - nur wer viel geld besitzt ist wichtig und ein mächtiger mensch. wir haben das nicht geschafft, wir sind aus diesem wald nie herausgekommen. du musst das jetzt an unserer statt tun", erklärte der vater und die mutter. und gleich wieder begannen sie sich zu streiten. wer wohl das und das verhindert habe, usw, usw. margarita musste wieder weinen. sie ging ein letztes mal in ihren geliebten wald, und dann begann ihre reise. natürlich wollte sie das wichtigste werden, das es gab. sie wollte das für ihre eltern tun.
mit verschleierten augen betrat sie das bunte leben in der grauen, großen stadt. sie suchte nach vertrauten gerüchen, geräuschen. alles war hier anders, fremd, und die häuser fühlten sich gläsern, stählern und kalt an. nichts war so, wie es in ihrem geliebten wald gewesen war. und die menschen stritten sich, und niemand hatte zeit. alle hasteten und rasten und beeilten sich. niemand blickte niemanden an. nur ein paar alte häßliche menschen saßen auf parkbänken unter kranken bäumen und fütterten komische, fette vögel. "wie kann das wichtig hier zu finden sein", fragte sich margarita immer wieder. in dieser grauen welt wurde ihre sehschwäche immer schlimmer. "du musst zum augenarzt, sonst kannst du nicht arbeiten", lautete der befehl eines wichtigmenschen. gehorsam ging sie zum arzt. und auf einmal sah margarita alles haarscharf. die grenzen wurden sichtbar und scharf hoben sie sich ab von jedem und allem. in einer stadt gibt es fast immer nur grenzen. scharfe, spitze, stachelige, fließende, blinkende, karrierte, linierte, laute, leise, giftige, rauchige grenzen.
Anfangs wollte das schmerzen in margaritas herz gar nicht aufhören. aber das viele arbeiten machte sie müde und der kopf füllte sich täglich mehr mit dem wichtig. Anfangs versuchte ihr wald in den träumen lebendig zu werden, doch irgendwann konnte er auch nicht mehr durch die träume zu ihr sprechen. Ihre nächte wurden grau und stadtbunt. gläsergeklirr und gekicher füllten die nächte und berauschende getränke wurden viele serviert. Die scharfsehend gemachten augen mussten immer zahlen lesen, nummern und nummerierungen. Die ohren mussten dem pfeifen des telefons gehorchen, ihre hände mussten fremde, kalte oder feuchtheisse hände drücken. ihr freundliches lächeln wurde zu einer maske. und immer ging es um das wichtig, um das geld.
viele jahre verbrachte margarita in der großen grellen grauen stadt. jetzt schmerzte der kopf oft von dem, zuviel wichtig – das herz war schon lange verstummt.
eines tages lag ein vogel mit gebrochenen flügeln vor ihrer tür. die augen weit geöffnet suchte das sterbende tier das herz von margarita. Sie hob es vorsichtig auf und mit ihren händen schützend wollte sie es in ihre wohnung tragen. Eine federleichte erschütterung ging durch den zarten vogelkörper und dann lag er tot, reglos und lebslos in ihren händen. Nachdenklich verbrannte sie das tier ihn ihrem kachelofen. erde gab es dort keine wo sie lebte. dreimal erlebte margarita das gleiche. ein sterbendes vögelchen lag vor ihrer tür, und wenn immer sie es aufhob starb es in ihren händen, jetzt konnte sie nicht mehr konzentriert ihre wichtig arbeit tun, immer wieder spürte sie den tod in ihren händen, und wie es geschah. mit einer stillen aber schrecklichen gewissheit erkannte sie, dass sie ihren wald verloren hatte. in all den jahren hatte sie ihn vergessen. je mehr sie den tod in den händen fühlte, desto unwichtiger wurde ihr das wichtig.
an einem grauen novembertag machte sie sich heimlich davon. sie verließ die stadt ohne irgendjemandem davon zu erzählen. all das wichtig ließ sie zurück. je weiter sie die stadt hinter sich ließ, desto leichter wurden ihre schritte. der kopf wurde mit jedem schritt den sie tat leerer, die zahlen verblassten wie rauch, die ohren konnten wieder hören und mit klaren augen sah sie den nebel aufsteigen. sie tauchte ein in den nebel und ließ sich führen von einer tiefen sehnsucht. irgendwann komme ich an und werde meine bäume umarmen, und meine armen alten eltern werde ich begraben, in die erde werde ich sie betten und gras wird sie wie eine spitzendecke bedecken. leben werde ich in dem häuschen meiner ahnen und wissen werde ich, was es heißt reich zu sein.


Das schwarze Pferd

da gab es einmal ein pferd, das war schwarz, stark und feurig. mit seinem ponyschweif verscheuchte es das kleingetier, als da sind: rossfliegen, bremsen, flöhe und andere kleine, lästige insekten. das pferd wuchs auf in einem gepflegten stall, der auch eine grüne wiese dran hatte. die war zwar klein, aber sie war fein.

 die pferdeeltern waren stolz auf ihr junges, und sie verwöhnten es. als das pferdchen älter wurde, fühlte es sich oft einsam. wo waren die anderen jungen, mit denen man toben konnte, spielen und um die wette laufen? das lieblingsspiel des schwarzen rössel war: "wer ist der stärkere". mit den eltern machte das keinen großen spaß. die gaben immer gleich nach und spielten "schwach", oder sie zeigten kein wirkliches interesse. "wenn ich einmal groß bin, dann möchte ich ein richtiger champion werden, der alle anderen hinter sich lässt, ein echtes siegerpferd."

 nach endlosen tagen war es endlich so weit. ein mann betrat den stall, betrachtete das junge pferd und bot dem bauern ein ordentliches sümmchen an, klopfte dem schwarzen auf den kräftigen rücken und führte das pferd zu einem transportauto.

 julio (so hieß unser pferd) hatte keine zeit mehr, sich von den eltern zu verabschieden. das störte ihn auch nicht weiters. zu groß war die aufregung über das, was ihn erwartete. julio wurde eine zeit lang im auto gefahren und irgendwann war man angekommen. sicherlich wird das ein vornehmer stall sein - mit extra hafer und goldenem stroh, dachte julio als er sich willig aus dem auto führen liess.

 er betrat einen stall, der alles andere als vornehm war. ein ganz gewöhnlicher stall. "schau, ein neuer!" hörte er aus einer ecke. ein bisschen mulmig ist ihm auf einmal geworden. er war gewöhnt alleine zu sein - und da war er immer automatisch der stärkste. "heh, kannst du nicht grüssen, kleiner?"  wiehert eine freche pferdestimme an sein ohr. hochnäsig erwiderte julio eine selbst für pferde unverständliche antwort. im stall schnaubten ein paar pferde, aber sie schwiegen. es war dunkel und es wurde nacht. irgendwann war julio eingeschlafen.

 als die ersten morgenstrahlen durch das stallfenster fielen, öffnete julio neugierig seine augen und blickte sich gründlich um.

 da gab es noch drei andere gesellen seiner art und drüben in einem extra kobl schlief eine weisse ziege. "guten morgen, toni!" schnaubte eines der pferde in richtung ziege. müde meckerte sie einen morgengruß zurück. die anderen erwachten.

 julio fühlte sich eine wenig unbehaglich. jetzt, wo alle zu ihm starrten und erwartungsvoll ihre ohren drehten fühlte er sich so als wäre er nackt. überlaut schnaubte er "ich bin der beste, der größte und der stärkste!" da erhob sich ein großes gelächter und gewiehere. die anderen pferde stampften mit den hufen und wollten gar nicht aufhören. "ihr werdet schon sehen!" irgendwann wurde es wieder still im stall. der bauer betrat den stall und alle hatten frühstück. "na, besonderes habt ihr aber nicht anzubieten!" beschwerte sich julio. der bauer verstand die pferdesprache ganz wenig. er glaubte julio hätte heimweh und wollte ihn trösten. julio aber gebärdete sich bedrohlich und gar nicht freundlich. als alle auf die weide geführt wurden, kam wieder leben in den stall. jeder wollte als erster auf die sonnige wiese. julio drängte die anderen zu seite. für ihn war klar, dass er der erste sein würde.

 auf der weide, stellte sich heraus, dass sie vier junghengste waren, die lernen sollten ihre kräfte miteinander zu messen und so starke pferde zu werden. "hej, dem zeigen wir´s einmal, dem neunmalklugen neuen." zu dritt umzingelten sie julio, der anfangs recht stolz seinen schwanz drehte. die drei kamen immer näher und näher. julio konnte nirgends ausweichen. er schmetterte einen wütenden laut und bäumte sich kampflustig auf. jetzt wurde es wirklich ernst für ihn. ein unfairer kampf begann: drei gegen einen. sie jagten julio über die weide. schweißtriefend und ohne atem erkannte er, dass er keine chance hatte den kampf zu gewinnen. er bekam ordentliche hiebe, begann sich zurückzuziehen. sein stolz hatte einen kräftigen seitenhieb davongetragen. julio schwieg. er senkte seinen kopf, zog sich zurück und redete den ganzen tag kein wort. er stand abseits und sah zu wie die drei junghengste sich vergnügten. sie kämpften nicht miteinander. sie taten vielmehr das miteinander wovon julio immer träumte, wenn er allein zuhause war. sie spielten, liefen miteinander um die wette und hatten viel spaß. da gesellte sich irgendwann die weiße ziege zu ihm. "grüß gott, ich heiße toni. wer bist du denn?" julio schwieg. er konnte nicht erkennen, dass die ziege sein freund werden wollte und eine freundschaft mit einer ziege etwas ganz besonderes war. "was soll ich mit einer dummen ziege reden?" dachte er, nichtwissend, dass die ziege gedanken lesen konnte. sie blickte ihm tief in die augen und trottete davon. immer alleiner fühlte sich julio. das gras wollte ihm nicht schmecken. er hörte das lachen der anderen junghengste und immer mehr hatte er das gefühl, dass sie über ihn lachten. als sie im stall waren, ging es julio nicht besser. niemand redete mit ihm. keinen kümmerte es, dass er doch ein siegerpferd war. die nacht verging und nächsten tag war es wieder dasselbe. die ziege kam vorbei, grüßte artig und wieder erhielt sie keine antwort. so ging das einige tage. julio fand nicht den weg zu seinen artgenossen, weil er immer nur an das siegen dachte. sein fell begann stumpf zu werden, das gras schmeckte ihm nicht und die zähne wurden gelb. die ziege beobachtete alles und wollten ihm gerne helfen. aber solange julio die ziege nicht beachtete konnte sie für ihn nichts tun. auch der bauer bemerkte, dass mit julio etwas nicht stimmte. eines morgens, als er den kobl ausmistete führte der bauer eine art selbstgespräch. "was habe ich da für einen spinner im stall stehen. aus diesem pferd wird wohl nie ein lustiger geselle. warum spielt er nicht mit den anderen?" als der bauer gegangen war, war es ganz still in julio geworden. toni, die ziege, stand neben ihm und blickte ihm wieder tief in die augen. verzagt schnaubte julio und blickte verlegen zur seite." das wirkliche siegen beginnt mit dem verlieren können. komm mit mir auf die weide." gemeinsam kamen sie zur wiese wo die junghengste miteinander spielten. "sieh sie dir genau an. alle drei sind schöne, starke jungpferde, genauso wie du. miteinander könnt ihr aneinander lernen. einmal ist der stärker, dann wieder der andere. wir alle sind teil und nur teil eines großen ganzen. geh hin und bitte freundlich mitspielen zu dürfen. und vergiss deinen hochmut." julio schämte sich. jetzt erkannte er, dass er sein leben aus der falschen richtung betrachtet hatte. es brauchte noch eine lange weile ehe er es schaffte zu seinen kameraden zu gehen. irgendwann schaffte er es doch und nun begann für julio eine wunderschöne zeit. es machte ihm großen spaß zu spielen, zu siegen, zu verlieren, zu lachen und immer wieder rieb er seinen kopf an dem hals eines seiner freunde, weil freunde waren sie alle geworden. für julio gab es nichts schöneres als das wissen dazuzugehören. voll dankbarkeit bekam er wieder eine glänzendes fell und strahlend, schöne mähne. die weiße ziege lebte beinahe unbemerkt unter ihnen, kaute an ihrem gras und war zufrieden.

julio wuchs heran zu einem wundervollen, starken pferd.


Der Karikaturist

als bub wuchs er in einer engen, kleinen wohnung auf. es gab nur ein fenster durch das die sonne in die wohnung schien, alle andere fenster gingen in einen nordseitig gelegenen hof hinaus, durch die man nur die mauer des nachbarhauses sehen konnte. diese sichtbegrenzung beschäftigte das fantasievolle kind sehr und stundenlang saß es am fenster und träumte sich über diese mauer hinweg.  er liebte die geschichten von peter pan.

seine eltern waren freundliche, hilfsbereite eltern, die ihr karges einkommen redlich teilten mit den kindern und einer katze. 

wenn die großmutter ihren besuch ankündigte, dann musste der kleine johann immer an ein erdbeben denken. für ihn schien das ein echtes erdbeben zu sein was da passierte. schon vor ihrer ankunft wurde geputzt, gescheuert und eine nervöse spannung erfasste die ganze kleine wohnung.  stand die große, beleibte großmutter dann im türrahmen, dann erschütterte ihr anblick das herz des jungen jedes mal (ein wenig so erging es auch seiner mutter, dachte er oft, wenn er den drohenden, strengen blick der großmutter auf seiner lieben mutter ruhen sah). gewöhnlich zog sie ihren mantel aus und ließ sich auf einem der sessel nieder. sie ächzte und beklagte sich über dies und das. an den ohren glitzerte gold, die dicken finger waren beringt, eine kette um den hals hob und senkte sich bei den sichtbaren atemzügen, die die mächtige brüste senkten und wieder hoben. man setzte ihr essen vor. wenn sie genug kaffee und kuchen gegessen und getrunken hatte - das war übrigens die einzige zeit in der mutter schlagsahne bergweise schlug, dann musste er sich zu großmutter setzen und bericht erstatten über dies und das. er hatte herzkopfen so als hätte er eine schwierige prüfung zu bestehen. oft fühlte er in solchen situationen die stille hand der mutter auf seinen schultern. aber ganz sicher war er nie ob sie sich auf ihn stützte oder ihm mut zu geben versuchte. er hatte seine mutter sehr lieb.

 großmutter blieb immer wenn sie da war bis zum nächsten tag. abends wenn der vater nach hause kam, schien sie etwas kleiner zu werden, die großmutter. ein wenig weniger raum nahm sie ein am tisch und der vater wirkte wie ein drachentöter auf den kleinen johann. sehr verlässlich und sehr bewaffnet. auch er wurde gleichsam verhört und einem strengen blick unterworfen. die mutter wieselte mit frisch gebügelter schürze um den tisch und deckte auf und deckte ab und es war dann immer so, als wäre die küche ein schlaraffenland geworden.  nachdem die großmutter die kleine wohnung verlassen hatte, kehrte eine seltsam befreite stille wieder ein, und die graue mauer stand erstaunlicherweise immer noch dort, wo sie immer gestanden hatte. der kleine johann dachte immer wieder, einmal würde sie fortgerissen, mitgerissen mit dem wirbel, den die großmutter erzeugte, und dann könnte er endlich die weite welt sehen und auf die reise gehen.

 graue häusermauern lassen sich aber nicht von gewaltigen großmüttern niederreißen oder forttragen.  das verstand der kleine johann irgendwann, als er größer wurde und die wohnung für seine wachsenden füße immer kleiner zu werden schien.  er suchte sich eine lehrstelle als handwerker und lebte und arbeitete in einer werkstatt.  immer wieder begleitete ihn das gefühl von nahendem erdbeben, wenn er gewaltige menschen antraf.  offenbar gab es in der welt fast nur gewaltige menschen.  er erlebte das im autobus; in der werkstatt, wenn der geselle mit ihm schimpfte, weil er etwas falsch gemacht hatte, das ihm noch nie jemand gezeigt hatte, wie man es richtig macht; wenn der meister mit dem gesellen schimpfte, weil der mit einem kunden nicht freundlich genug war. er erlebte, dass wenn die frau des meisters kam und den meister schimpfte weil der irgendetwas mitzubringen vergessen hatte. zuhause war es still und friedlich. eine seltsame ruhe ging aus von der mutter, wenn sie am tisch saß, einen socken stopfte oder äpfel schälte. wann immer johann zeit hatte, setzte er sich zu seiner mutter und zeichnete mit einem stift, was er erlebt hatte. die erdbeben ließen ihn nicht mehr los. er versuchte sie zu zeichnen, damit die erschütterungen, die in seinem freundlichen herzen stattfanden sich wieder beruhigen konnten. als die mutter ihren jungen so ernsthaft zeichnen sah, bat sie ihn eines tages ihr die blätter zu zeigen. sie musste hell auflachen, als sie diese sah. johann begriff nicht, was es da zu lachen gab. gleich bahnte sich wieder so ein beben an, doch er wusste, dass die mutter ihn liebte, deswegen fragte er, was denn da so lustig sei. sie blickte ihm in die offenen augen und sagte nur: "das tut gut, das tut so gut, was du da tust!"

so war aus ihm ein karikaturist geworden.

 erst viele jahre später, als die graue mauer längst nicht mehr in seinem blick war, als er die lehre abgeschlossen hatte und er ein erwachsener mann geworden war, begann er seine bilder zu verkaufen. die erdbeben waren die gleichen geblieben, die erschütterungen ließen sein freundliches herz immer noch erzittern, wenn die gewaltigen menschen sich so mächtig machten, und es blieb ihm keine andere wahl sich seine herzensruhe zu erhalten oder wieder herzustellen, als das alles zu zeichnen wie er es fühlte. wie ein freundliches herz, das nur ein fenster in seiner wohnung hat, durch das die sonne scheint, das gegen die mauer lebt, die alle anderen fenster begrenzen.

„sie sind ein wunderbarer spiegel unserer zeit“, so lobte ihn einmal ein fremder als er zu einem empfang geladen war, wo gewaltig viel zu essen und zu trinken angeboten wurde. Und schon wieder war da dieses beben. bald ging er fort, nahm zuflucht bei seinem alten küchentisch und zeichnete weiter. 


Ein Stückchen Ich

Als sie auf die Welt gekommen war, hatte sie das untrügliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Die große Seele war in ihrem kleinen Körper eingepackt, und füllte jede Pore ihres Körpers aus. Immer noch war da viel Seele, und die sammelte sich hinter ihren großen dunklen Augen, und bildete dort einen See, der durch die Augen glitzern konnte.
 Erwartungsvoll wuchs sie in ihr Leben hinein, wie in einen zu großen Mantel, der am Boden schleifte, und dessen zu lange Ärmel unnütz hinunterbaumelten. Doch ihre Lebendigkeit füllte rasch den übrigen Raum, mit vielen und ganz verschiedenen Gestalten, Erlebnissen, Gerüchen und Geschichten. Phantasie und Wirklichkeit kullerten oft durcheinander.
Sie hatte etwas vergessen, oder es war auf dem Weg verloren gegangen. Immer wieder fühlte sie das, konnte aber nicht erkennen, was es war. Diese Suche bestimmte fast ihr ganzes Leben. Arglos- wie Kinder sind- dachte sie, dass alles und jedes sie zu dem Verlorenen hinführen würde. So gestaltete sich ihr Leben wie eine Schatzsuche. In ihrem Inneren gab es so etwas wie eine Karte, mit geheimnisvollen Zeichen, Stationen und Orten, an denen sie wieder neue Karten fand, die weitere Wegweiser waren, und sie weiterführten. Gehorsam folgte sie ihrem inneren Weg, und immer war sie neugierig, was sie als nächstes entdecken würde. Da gab es kein geborgenes Zuhause, in dem sie sich’s gemütlich hätte machen können. Wenn es kalt war, suchte sie sich Schlupflöcher, zog sich zurück wie eine Schnecke, und rollte sich zusammen wie eine Kugel. Sie suchte Holz um ein Feuer zu machen das sie wärmte. Wenn es regnete, spürte sie das Wasser auf der Haut, und weinte mit dem Himmel ihre Tränen. Der Himmel musste wohl auch weinen, so dachte sie, weil er seinen Schatz suchte, und nicht finden konnte.
Immer wieder gesellten sich Leute, große oder kleine, zu ihr und gingen ein Stück Weg mit. Wenn sie wieder fort waren, fehlten sie ihr selten wirklich.. Sie glaubte, dass alle Menschen auf der Suche waren. Im Laufe der Jahre bemerkte sie, dass die Suche immer innerlicher wurde. Sie entdeckte, dass sich viel Angst in ihr versteckt hielt. Diese Angst, das wusste sie, musste sie als allererstes aufstöbern, hinaustragen aus ihrem Inneren, auf die Wäscheleine hängen und gut durchlüften lassen. Nie wusste man, was mit der Angst passierte, wenn man sie ans Licht brachte. Wenn man jetzt viel Angst in sich drinnen hat, dann gibt es viel Arbeit mit dem Lüften. Sie liebte die Sonne, das Meer, und den Wind. und sie war ein fleißiges Mädchen.
Irgendwann traf sie einen jungen Mann, der zu ihr gehörte. Sie heirateten, und sie bekamen vier Kinder, die sie sehr liebte. Kinder sind wie viele spannende Abenteuer.
 Die Suche nach ihrem Schatz erfuhr eine Veränderung. Ganz tief drinnen wusste sie, dass ihre Suche weiterging - wie von alleine. Es gab ja viel Arbeit zu tun im Haus, und sie liebte das Spielen mit Farben, Tönen, sie liebte das  Spielen mit Worten. Wenn sie mitten im Spielen war, fühlte sie die Nähe dieses Schatzes, wenn sie kochte, oder auf der großen Wiese stand, wenn sie mit den Kindern über die Welt redete, und deren Wachsen fühlte, war sie dem Verlorengegangenen ganz nahe. Sie konnte es aber nicht angreifen, begreifen. Stattdessen musste sie wieder irgendeine alte Angst ausgraben, und wieder ging es an die Arbeit.
Viele Jahre schon waren vergangen, und immer waren es nur Ahnungen, die ihre Seelenräume erfüllten. Und die Tage und die Nächte kamen und gingen, und treu stand sie am Strand, wusch die Wäsche, und lüftete ihre Ängste, - steht sie immer noch am Strand. Die Füße im Wasser, die Augen auf den Horizont gerichtet, die Ohren lauschend dem Wind hingegeben, sucht sie ihre Stille, sucht sie ihr Herz, sucht sie ihre Liebe, die leise strömt, unbemerkt von ihr sich loslöst, und sich verselbständigt. Sie sucht und sucht, was sie nicht weiß, und dennoch kennt, und immer vorwärts ist ihr Blick gerichtet - nie rückwärts - und jetzt - jetzt immer weiß sie, dass im Jetzt sie sucht.


Eine Geschichte für Doris

er wurde vertrieben, er ließ sich vertreiben, er vertrieb sich selbst von stall und hof. sein herz liebte das land und die derbe, harte erde, der man jahr für jahr die ernte abringen musste. das träumen hat er früh vergessen, da war er noch ein kleiner bub. sein schwarzes haar büschelte sich um sein dunkelhäutiges gesicht und oft verfinsterte sich sein junges gesicht und der zorn machte ihn stark.
als er groß genug war, zog er in die stadt und verbiss sich in erlernbares wissen. wann immer er zeit hatte suchte er die grünen wiesen, saß unter bäumen und hörte den vögeln zu. fast heimlich pflegte er seine liebe zum land und in der lauten stadt trank er gerne und viel wein, um sich nicht zu verraten.
pflichtbewusst ackerte er seine bücher durch, und ein tiefes erbarmen rührte seine seele über das leid der menschen
. er wurde arzt, und sehr gewissenhaft kehrte er das innere der kranken menschen nach außen um zu helfen. wenn er in seine arbeit vertieft war, versöhnte er sich immer wieder mit sich selbst und seinem weg. sein zorn richtete sich gegen krankheit und tod und der finstere blick galt nun nicht mehr ihm selbst.
nachdenken oder nachfühlen vermied er und lernte immer besser, trotzdem zu bestehen vor arzt, schwester und patient. er trank viel wein und niemals weinte er. immer noch liebte er das land, die erde und den wind. mit der zeit konnte man meinen, er habe wurzeln geschlagen dort bei den krankenbetten wo seine patienten lagen.
 
seine seele wurde krank. er liebte seine kinder so wie er sich selber liebte. die frau blieb eine fremde, die arbeit erschöpfte ihn und der wein half ihm beim schlafen.
sein zorn lebte mächtig in ihm und so sehr er das innen der patienten nach außen kehrte, um ihnen zu helfen, so sehr vermied er es sein inneres zu berühren oder es berühren zu lassen.
doch eines tages wurde ihm ein ganz besonderer mensch als krankenschwester an die seite gestellt
 sie war eine frau die ihre erde liebte und nicht verleugnete. behutsam und beharrlich tastete sie sich in sein verödetes, verkarstetes innenleben und begann die harte erde aufzulockern. zwanzig jahre hatte sie als bäuerin gearbeitet, hatte gesät, geerntet, geackert, die kühe gemolken und ausgemistet. vier kinder hatte sie geboren und ihr land hatte sie alleine gehütet.
sie wusste um seine not, in die er sich selber gebracht hatte. „wenn man ein ausgedörrtes land fruchtbar machen will, dann muss man sich um das rechte wasser kümmern“, erklärte sie eines tages. und viele tropfen lachen, freundschaft und tiefes verstehen wurden von ihr hinübergetragen in sein einsames land. immer wieder eine hand voll liebe, behutsam hineingegossen. sie durfte das lieben fühlen in ihrer arbeit an den kranken und an ihrem arzt.
„warum bist du keine bäuerin geblieben?“ fragte er sie eines tages. „weil du kein bauer geworden bist“, war dieverschmitze antwort und ein lachen folgte, das an einen kleinen wasserfall erinnerte. mit tiefer dankbarkeit durchbrach er seine mauer und sie erkannte das reiche weite land das da in ihm brach lag und darauf wartete, begrünt zu werden.


Eine Geschichte für meine liebe Ines

Es war einmal ein Mädchen das war sehr klein als es auf die Erde kam. Alles war niedlich und winzig an ihr. Alles, bis auf ihre großen Zehen. Sie hatte zwei davon. Mit ihren lustigen, klugen Augen versuchte sie die Welt zu erfassen. Mit ihren kleinen Patschhändchen versuchte sie die Welt zu begreifen. Und immer war da etwas worüber sie lachen konnte, kichern. Oder auch davon gab es genug, worüber sie weinen musste. Zum Beispiel wenn der Hunger den kleinen Bauch hochkroch und dort knurrte wie ein kleiner Hund, wenn ihm jemand den Knochen wegnehmen will.
Ihre großen Zehen bemerkte das Mädchen lange garnicht. Viele Monate, sogar Jahre zogen ins Land, ehe sie es bemerkte. Unser Mädchen hieß Lyra.
Lyras große Zehen besaßen magische Kräfte. Das wussten aber nur die Zehen. Lyra selbst kümmerte sich nicht weiter darum. Manchmal ärgerte sie sich sogar darüber. Besonders dann, wenn sie sich Prinzessinnenschuhe kaufen wollte. Das war nicht so einfach.
Eines Tages beschloss sie, das Aschenputtel zu werden. Da geht es ja schließlich auch um die Füße und der Prinz hat es dennoch gefunden, geheiratet und ihr ein Königreich zu Füßen gelegt.
 Den großen magischen Zehen passte dieser Entschluss gar nicht. Schließlich waren sie besondere Zehen, die einen wichtigen Auftrag für Lyra bekommen hatten. Sie begannen sich Sorgen zu machen. Und wenn man sich Sorgen macht, beginnt man zu schwitzen. Lyra musste täglich ihre Füße baden und konnte einfach nicht verstehen warum sie solche Füße und solche Zehen hatte. Sie mochte sie nicht.
Wenn sie die Zehen spreizte, ärgerte sie sich oft und überlegte: vielleicht, wenn sie Spitzentänzerin werden würde, die Zehen mit der Zeit vielleicht kürzer werden würden – abgetanzt sozusagen.
Die zwei großen Zehen hatten wirklich Probleme mit Lyra. Ihre Magie konnte nämlich erst dann wirken, wenn Lyra sie anlächelte. Solange das nicht passierte, waren sie ganz normale etwas zu groß geratene Zehen.
Eines Tages träumte Lyra von ihren Füßen. Die Zehen waren zwei schöne junge Männer. Sie sahen aus wie Zwillinge, hatten beide langes, rotes Haar und jeder von ihnen beugte sich über Lyra und flüsterten ihr etwas Geheimnisvolles ins Ohr. Was die Beiden ihr sagten weiß ich nicht, aber Lyra musste ganz herzlich lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. Als sie aus dem Traum erwachte guckten ihre Füße aus der Bettdecke hervor, besonders die großen Zehen. Lyra packte sie und lächelte sie an. Was für ein Traum, dachte sie noch, ehe sie sich umdrehte und noch ein Weilchen weiterschlief.
 „Endlich ist es so weit“, flüsterte die eine Zehe der anderen zu. „Es kann nun losgehen mit unserer Arbeit.“ Sie räusperte sich und versuchte zu sprechen. Anfangs war es mehr ein Krächzen, aber die Beiden übten fleißig und es dauerte nicht lange, da konnte man die Worte schon ein bisschen verstehen.
 „Übung macht den Meister, Nora“, rief Arno – die rechte Zehe – der linken zu. „Hmhm…“, antwortete diese. „Lyra“, startete Arno „kannst du uns hören? Ich meine hörst du mich?“ Ein beinahe unmerkliches Prickeln lief durch die rechte Zehe und Lyra, die gerade ihre Morgentoilette erledigte, wunderte sich: War da etwas? Sie blickte auf ihre nackten Füße herab. „Ja, ich bin’s, Arno, deine große Zehe. Wir sind zu dir geschickt worden, weil du uns brauchst.“
Nun wurde Lyra gewahr, dass es wirklich ihre große Zehe war, die da mit ihr redete. Verwundert und verdutzt spreizte sie ihre beiden Zehen. „Das mit dem Aschenputtel, das musst du rasch wieder vergessen. Das Königreich ist in dir und niemand kann dir je ein schöneres anbieten. Viele Menschen, Pflanzen und Tiere leben in dir und warten darauf, dass du sie in die Welt hinausschickst. Dass du dein Herz öffnest, frische Luft hineinlässt und gut durchlüftest. Die Menschen draußen warten auf dich schon lange.“ Lyra hatte sich in der Zwischenzeit auf den Badezimmerhocker gesetzt und auf Arno herunterschaut. Fasziniert fühlte sie das zarte Prickeln, und ganz sicher war sie nicht, ob das nicht wieder ein Traum war.
 Ein wenig außer Atem ist die große Zehe geraten, nach all den vielen wichtigen Worten. „Na, wie war ich Nora?“ fragte sie ihre linke Kollegin. „Hm, ja, hmhm“, antwortete diese. Was sollte sie auch sagen. „Warum sagst du mir das?“ fragte Lyra. „Weil du etwas Wichtiges vergessen hast, Kleine, dort von wo du hergekommen bist. Deswegen wurden wir dir im letzten Augenblick noch geschickt“, erklärte Arno sehr überzeugt. „Und das wäre?“ Ein bisschen amüsiert klang Lyra, als sie so mit ihrer großen Zehe sprach. „Du hast vergessen, dass du wichtig bist hier auf der Erde. Sehr wichtig sogar! Und weil du das Wichtig-sein-Gefühl zurückgelassen hast, irrt dein Herz oft ruhelos herum und du hast dann dieses Märchen vom Aschenputtel als dein Wichtig gemacht. Aber das wird ja jetzt anders. Wir sind immer und überall bei dir, weil wir zu dir gehören und jetzt können wir mit dir reden und du hörst uns. Wir sind stolz darauf, deine großen Zehen zu sein. Nicht wahr, Nora?!“ „Ja, hmhm“, antwortete die linke Zehe beschaulich.
Lyra wurde still und ein kleines Leuchten glitzerte in ihren Augen als sie ihre Strümpfe anzog. Leise hörte sie Arno noch sagen: „Uch, jetzt haben wir’s geschafft. Jetzt müssen wir sicher nicht mehr so viel schwitzen.“


Für Bernhard

das telefon klingelt. da ist er still an der anderen leitung. er hält den hörer in der hand und blickt in die ferne. seine scharfen augen durchdringen den nebel und landen im wasser. tief , still und grün ruhen die grauen steine dort, wo sie schon viele leben lang ruhen , immer noch.
 während er den hörer in seinen runden, starken händen hält umfassen sie die uralt-ewig- dort-seienden steine, schälen sie aus dem sandigen grund und heben sie auf. die wasseroberfläche kräuselt sich und verschreckte fische tauchen weg und ihre schwanzflossen schnellen und schlagen aus.
er hört zu, während er im see ist. mit ruhiger, bedächtiger stimme spricht er in die muschel ein paar worte, während er sieht. außerdem lebt er im holz - das zähe wachsen in die höhe, die säfte, die aus der erde in den stamm steigen und fallen, fließen - ist ihm geheime heimat - und auch das bersten. die gewalt, mit dem ein baum fällt, wenn er geschlachtet wird, sieht er, während er den stein im seegrund liebevoll umfasst.
 die belaubte weinranke - aus uraltem wurzelstock hervorgetrieben - die trauben an der sonne gereift, geerntet, getreten, gekeltert und letztlich zu kühlem, klaren wein geklärt, ist eine liebende schwester ihm und sie erzählen sich geschichten und lachen und weinen. Da ist das weinen am seegrund - aus den händen fließen seinetränen heiß und salzig schmeckt der stein, den er immer noch hält. Die augen schneiden durch den horizont und schmerzen. Mit ruhiger stimme lebt er allein unter den menschen und hört zu und hört weg - das hat etwas mit den gezeiten draußen zu tun - er weiß das.
ich weiß es auch. sein bruder bin ich - genebelter wasserdunst, der schützend seine arme ausbreitet über die erde, die sich preisgibt mit ihren wiesen und sich vor der heißen sonne nicht zu schützen vermag. sein bruder bin ich in den tieren, die den wald besingen und besinnen und seine schwester, wie gesagt, bin ich ihm im wein.
irgendwann legt er den hörer in die gabel zurück, still und setzt sich an den tisch und löffelt seine suppe aus dem teller - die augenin gedanken tief hineingesenkt in diesen kleinen, heißen see.


Tagträumerin

es war einmal ein mädchen, das zuvor ein junge gewesen war. als es auf die erde kam, hatte es schwarzes haar, eine dunkle haut und schneeweisse zähne. sein name war
tamnara. das mädchen wuchs wie seine brüder in einem land auf, in dem die kühe ihre milch den menschen gaben, die butter und käse daraus machten, schweine und andere tiere wurden von den männern geschlachtet. daraus machte man wurst, fleisch und schmalz. im garten bauten die frauen salat und gemüse an, und das getreide wuchs über die breiten felder und färbte es sandfarben und golden. tamnara hatte also viel zu essen und wuchs in einer fülle von "ich habe genug“ auf. da war aber noch etwas. als sie auf die erde kam, hatte sie eine weisse, winzige, glitzernde perle verschluckt, die direkt aus dem himmel kam. niemand wußte das, und tamnara hütete ihr geheimnis. vielleicht hatte sie es auch für eine zeitlang einfach vergessen. dieses weiße himmelskorn ruhte in ihrem herzchen und wuchs leise, und irgendwann regte es sich.

tamnara saß oft auf ihrem lieblingsstein, hörte den vögeln zu und liebte die sonne. aber immer, wenn die sonne bis zu ihrem herzen vordrang, und das lichtkorn sich regte, wurde tamnara unruhig und oft sogar mußte sie weinen. irgendetwas war anders, als es bei ihren brüdern und eltern war. niemand wußte sich zu helfen. es gab auch keine medizin, und das gute zureden der eltern und geschwister, doch so zu sein, wie sie selbst es waren, nütze nichts. tamnara hütete mehrere geheimnisse, und die hatten alle etwas zu tun mit dem lichtkorn in ihrem herzen. so vergingen die jahre, und tamnara wurde ein schönes, starkes mädchen. wenn sie schlief, spielte sie mit dem lichtkorn in ihrem herzen. die kostbare, langsam zu einem pflänzlein wachsende perle erzählte von der sonne, erzählte geschichten, die sehr geheimnisvoll klangen, und die tamnara fest in ihre seelenhände nahm und wie einen kostbaren schatz hütete. des tags, wenn sie erwachte, schien sie ihre träume zu suchen. etwas regte sich in ihr, aber genau wußte sie nicht, was ihr nächtens geschah.

beharrlich machte sie sich auf den weg, ihre träume zu finden. oft kehrte sie zurück auf ihren stein und blickte traurig auf die weiten felder hinaus. niemand war da, dem sie ihre fragen stellen konnte, und es gab so viele fragen in ihr. irgendwann hatten sich so viele geschichten angesammelt, daß sie schier platzen mochte. das lichtkorn begann gestalt anzunehmen, und tamnara konnte ihre inneren augen öffnen und sehen.
berauscht von der gläsern zarten wirklichkeit in ihrem herzen öffnete sie ihre augen weit und suchte das licht der menschen in ihrem herzen. wieder wurde tamnaras herz schwer - da war so viel dunkelheit überall - es war, als arbeiteten die menschen tief unter der erde, in der künstliches licht die sonne ersetzt. dieses künstliche licht hieß arbeiten, geld verdienen, es wieder ausgeben, fleisch essen und in den fernseher hineinschauen, bierschwer ins bett fallen und keine träume träumen. kalt, feucht und lieblos lebten  die menschen in ihren häusern, sorgenvoll und ohne geheimnis. einsam lebte tamnara mit ihrem wachsenden licht eine zeit lang, suchend nach schwestern und brüdern, sie ging in die weite welt hinaus. irgendwann wollte sie sich von ihrem licht trennen, sich abwenden. geheimnisse müssen gestalt werden, dachte sie, sonst werden sie vergessen und verlieren ihre bedeutung. "tamnara, dein licht ruft dich jetzt. es ist an der zeit, dein herz aufzumachen". tamnara begann, ihre geschichten zu malen - behutsam und fragend - tastend fühlte sie die farbe ihre hände führen. mit großer ehrfurcht gestattete sie ihrem lichtkorn, sich seinen weg zu bahnen, der hinausführte aus dem herzen, hinein in das bild, um von dort wieder hinauszuwachsen - hinein in ein herz, oder in ein anderes. das licht des herzens findet seinen weg auch in der dunkelheit, wenn es ein kindfeines zuhause hatte.

tamnara erlebte nun eine heitere zeit. wie auf einem bahnhof wuselte das licht, liebe, begegnungen, abenteuer in ihrem herzen. sie hatte alle hände voll zu tun, dazubleiben - nicht mit dem licht selbst auf die reise zu gehen.

ihre geheimnisse waren nun keine mehr - sie waren gereift. wie die raupe sich zum schmetterling schläft, so konnte das lichtkorn wachsen. jetzt entfalteten sich tamnaras traumlichtflügel und segelten - durch das licht der sonne geführt - in die tage, stunden und minuten der menschen hinaus  - segelten in das eine oder andere herz, das sehnsüchtig in der dunkelheit an das goldene licht der sonne dachte, und erwärmte die kalten herzen wie ein tröstliches feuerchen es tut, wenn im winter die frostblumen an den fenstern glitzern.

tamnara wurde eine zufriedene, starke lichtmutter, die es liebte, bilder zu malen, bäume zu umarmen und die ihre träume mitnahm, wohin immer sie ihr weg führte. stets bereit, das eine oder andere ihrer traumkinder loszuschicken - hinaus in eine dunkle kalte welt - hinein in ein pochendes herz, das sehnsucht nach dem licht der sonne hatte.

wünschen wir ihr, daß alle ihre lichtkinder ihr in dunklen stunden die musik des himmels in ihr herz legen.